Die natürlichen Zahlen im Unterricht
Zahlbilder
Etliche Systeme solch einprägsamer Punktmuster brachte die Zahlbild-Methodik im 19. Jh. hervor, die sie vielfach zur Grundlage des Rechenunterrichts in der Grundschule machte.
„Zahlbilder sind symmetrische, charakteristische Figuren (mathematischen Grundformen entnommen), aus Punkten, Kreisen usw. zusammengestellt, deren Inhalt sich mit einem Blick übersehen läßt, was bekanntlich mit einer Reihe von Strichen, Punkten usw., die mehr als 5 enthält, nicht der Fall ist. Diejenigen Formen der Zahlbilder sind die brauchbarsten, welche bei ihrer Zerlegung in 2 Teile wieder 2 Zahlbilder vors Auge stellen.“ (Zit. nach Kruckenberg, „Die Welt der Zahl im Unterricht“, 1940, S.136)Möglichkeiten und Grenzen der Methode:
Moderne Zahlbildmethoden sind z.B.
5+2=7 |
7+7=10+4 |
5+2=7 |
7+7=10+4 |
Das Zählenlernen ist ein Entwicklungsprozess, der i.Allg. zusammen mit dem Sprechenlernen abläuft. Bei Schuleintritt können fast alle Kinder bis zehn zählen und etwa drei viertel aller Schüler bis zwanzig. Nach Gelmann u. Gallistel (1978) genügt das übliche Zählen folgenden fünf Zählprinzipien:
Ergänzen könnte man noch das
- Prinzip der Eins-zu-Eins-Zuordnung:
- Jedem der zu zählenden Elemente wird genau ein Zahlwort zugeordnet.
- Prinzip der stabilen Ordnung:
- Die Reihenfolge der Zahlwörter ist immer die gleiche.
- Kardinalzahlprinzip:
- Das letzte Zahlwort beim Zählen gibt die Anzahl der gezählten Objekte an.
- Abstraktionsprinzip:
- Es ist zwar nicht alles abzählbar, aber für alles Abzählbare genügt ein Zählverfahren.
- Prinzip von der Irrelevanz der Anordnung:
- Die Reihenfolge der Objekte ist beim Zählen beliebig.
Kinder vertauschen nämlich durchaus beim Zählenlernen einzelne Zahlwörter und verwenden diese unkonventionelle Reihe stabil über geraume Zeit hinweg. Darüber hinaus eignen sich mitunter auch manche spielerische Abzählreime zum Zählen („enne, denne, fenne, funke, hawe, schnawe, niko, demo, futsch“). Aber all das versteht man herkömmlich nicht unter „zählen“. Andererseits ist die Anzahlbestimmung auch mit einer unkonventionellen Zahlwortreihe denkbar, und das Zählen ist bei Verwendung einer solchen nicht einfach falsch sondern nur unkonventionell.
- Prinzip der konventionellen Ordnung:
- Die Zahlwörter werden in der üblichen Reihenfolge verwendet.
Der Prozess des Zählenlernens wurde von Karen Fuson (1988) detailliert untersucht und in die folgenden fünf Stufen untergliedert:
- Niveau 1 – String level (ganzheitsauffassung der Zahlwortreihe):
- Die Zahlwortreihe wird als Ganzes unstrukturiert eingesetzt, wird wie ein Lied oder ein Gedicht rezitiert: „einszweidreivierfünfsechs“.
- Niveau 2 – Unbreakable chain level (unflexible Zahlwortreihe):
- Die einzelnen Zahlwörter können klar unterschieden werden, jedoch muss die Reihe immer als Ganzes aufgesagt werden (von 1 an).
- Niveau 3 – Breakable chain level (teilweise flexible Zahlwortreihe):
- Die Zahlwortreihe kann von einem beliebigen Zahlwort aus aufgesagt werden. Vorgänger und Nachfolger können genannt werden. Rückwärtszählen gelingt zum Teil.
- Niveau 4 – Numerable chain level (flexible Zahlwortreihe):
- Von jeder Zahl aus kann eine bestimmte Anzahl Schritte weitergezählt werden: Zähle von 14 aus drei Schritte vorwärts.
- Niveau 5 – Bidirectional chain level (vollständig reversible Zahlwortreihe):
- Es kann von jeder Zahl aus vorwärts und rückwärts gezählt werden.
Mit dem Zählen eng verbunden ist die Arbeit am Zahlenstrahl. Eine typische Übung besteht etwa darin, zu einer vorgegebenen Zahl (z.B. 23) den entsprechenden Punkt auf auf einem Ausschnitt des Zahlenstrahls zu lokalisieren.
Im ersten Schuljahr verwendet man statt des Zahlenstrahls z.B. eine Zwanzigerreihe:
Die Reihe der gesprochenen Zahlwörter weist im Deutschen (u.a. Sprachen) eine heterogene Struktur auf, die darauf hindeutet, dass ihre Entstehung in unterschiedlichen Phasen und unter verschiedenen Gesichtspunkten verlaufen ist. Diese Struktur unterscheidet sich stark von der der geschriebenen Ziffernzahlen, was schon bei der Zahl 10 auffällt, die wir im Sinne des Stellenwertsystems als „Einsnull“ (oder „Nulleins“) aussprechen müssten.
Die natürlichen Zahlen werden im Alltag in vielfältiger Weise verwendet: „3 Steine“, „3 km“, „Losnummer 3“, „Seite 3“. Diese Verwendungsweisen bezeichnet man als Zahlaspekte und klassifiziert sie herkömmlich wie folgt:
Anzahl
(wie oben Kardinalzahl) Bedeutungswandel
Weitere Aspekte kommen zum Anzahlaspekt hinzu.
- Maßzahl:
- 3 cm (wie oben)
- Ordnungszahl:
- „… an der dritten Haltestelle …“ (wie oben)
- Unterschiedszahl,
- additiv:
- „… ist 2 cm größer/kleiner als …“
- multiplikativ:
- „… ist doppelt so alt wie …“
Bedeutungsverlust
Der eigentliche Anzahlaspekt verblasst, d.h. der Bezug zu einer (anderen) Menge zwecks Anzahlangabe wird unbedeutend.
- Systemzahl:
- Ziffernfolgen, verstanden als Zahlen in Stellenwertsystemen, z.B. 1011₂ (im 2er-System) oder 345+289=634
- Figurierte Zahl
- Zahlbilder oder allgemein Punktmuster wie das Hunderterfeld im 2. Schuljahr.
- Algebraische Rechenzahl:
- z.B. 3+4=4+3 (wie oben)
Die o.g. Codierungszahlen subsumieren wir unter Ordnungszahlen, insofern sie in einer geordneten Liste der Identifizierung eines Objekts dienen. Operatoren sind u.E. Anzahlen.
In der Mathematik sind Zeichen wie „5“, „127“ oder „VII“ keine Zahlen sondern Zahldarstellungen. Es sind Zeichen für Zahlen aber eben nicht selbst Zahlen. Diese Auffassung ist durchaus naheliegend, da z.B. die Zeichen „zwei“, „2“ oder „II“ als Objekte betrachtet sehr verschieden sind, aber hinsichtlich ihres Gebrauchs als Zahlen i.W. das Gleiche bedeuten. In der Mathematik gibt es keine unterschiedlichen „Zweien“ sondern nur eine Zahl Zwei. Diese Sichtweise führt konsequenterweise zu der Frage nach der eigentlichen Zahl. Die Mathematik interessiert sich i.Allg. jedoch nicht für einzelne Zahlen sondern für Beziehungen zwischen Zahlen. Sie macht Aussagen wie „Für alle natürlichen Zahlen a, b gilt a+b=b+a“ oder „Jede natürliche Zahl (außer 1) ist vollständig und eindeutig in Primfaktoren zerlegbar.“ Zur Begründung ihres Zahlbegriffs hat die Mathematik um 1900 herum mehrere Konzepte entwickelt, die je nach mathematischem Gebiet zur Anwendung kommen. Zwei prominente Konzepte haben wir im vorhergehenden Kapitel dargestellt, nämlich die Kardinalzahlen und die Dedekind-Peano-Axiome.
Für den Unterricht in der Primarstufe ist diese begriffliche Unterscheidung zwischen Zahlen und Zahldarstellungen jedoch eine große Belastung und u.E. nicht fruchtbar. Deshalb bevorzugen wir in diesem Kontext eine andere Sichtweise. Zwar sehen wir solche Objekte, die die Mathematik Zahldarstellungen nennt, auch als Zeichen für etwas anderes an, aber wir bleiben konkret, indem wir sie in einem ursprünglichen Sinne als Zeichen für eine andere konkrete Menge auffassen – genauer gesagt: als Zeichen für die Existenz der Elemente dieser Menge. Damit folgen wir einer allgemeinen semiotischen Charakterisierung des Zeichenbegriffs (s.a. Matros/Johann, „Ursprung und Wandel des Zahlbewusstseins“, 2006, S.78 ff.):
Ein Zeichen ist etwas, wodurch wir uns etwas anderes in gewisser Hinsicht vergegenwärtigen.Eine Landkarte ist solch ein typisches Zeichen: Durch sie vergegenwärtigt man sich eine Landschaft, aber eben nicht als Ganzes (wie auch?), sondern nur in gewisser Hinsicht, etwa hinsichtlich der Höhenunterschiede oder hinsichtlich der relativen Lagen von Ortschaften.
Strichlisten sind ebensolche Zeichen: Durch sie vergegenwärtigt man sich z.B. bei der Klassensprecherwahl die Befürworter der Kandidaten, aber wiederum nicht gänzlich, dazu wäre eine Strichliste nicht brauchbar. Wenn wir das wollten, müssten alle Anhänger der Kandidaten hervortreten. Und das mag wohl die archaische Bedeutung einer solchen Wahl sein: Die Anhänger zweier Kandidaten im Kampf gegeneinander, und Gewinner ist, wer die meisten Anhänger hinter sich vereint. Doch gottlob gibt es Strichlisten, und statt der Personen lassen wir die Striche kämpfen. Dazu notieren wir für jeden Anhänger eines Kandidaten genau einen Strich – der Mathematiker nennt das eine bijektive (oder eineindeutige) Zuordnung. Durch jeden Strich vergegenwärtigen wir uns dann einen Anhänger eines Kandidaten, aber nur in der Hinsicht, dass es ihn gibt, dass er existiert; und jeder andere Strich steht für die Existenz eines anderen, weiteren Anhängers. Schließlich vergleichen wir die Strichlisten der beiden Kandidaten, und Sieger ist, wer mehr Striche hat.
Solche Zeichen wie Strichlisten sind die ursprünglichen Anzahlen, wir verwenden dafür den Ausdruck explizite Anzahl:
Eine explizite Anzahl ist eine Menge, durch deren Elemente wir uns alle Elemente eine anderen Mengen hinsichtlich ihrer bloßen Existenz vergegenwärtigen. Dabei steht jedes Element der Anzahl-Menge für die Existenz genau eines Elements der anderen Menge. (Die Mengen sind bijektiv aufeinander abbildbar.)Unter einer impliziten Anzahl verstehen wir dann weiter ein Zeichen für eine explizite Anzahl, das kürzer ist als diese. Beim Abzählen einer Menge mit Zahlwörtern etwa bilden wir zunächst eine explizite Anzahl („eins, zwei, drei, vier“) und anschließend daraus in umkehrbar eindeutiger Weise eine implizite Anzahl, nämlich das letztgenannte Zahlwort („vier“).
Wie lässt sich nun aber unsere Vielfalt gleichwertiger Anzahlen („zwei“, „2“, „II“, „10₂“ etc.) vereinbaren mit der Einzigkeit der Zahlen in der Mathematik? – Zu einem ähnlichen Problem sagt Aristoteles:
„Die gesprochenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen Worten. So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen dieselben sind, so sind auch die Worte nicht bei allen Menschen dieselben; aber die Vorstellungen in der Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen Menschen dieselben und eben so sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder sind.“
Aristoteles, Peri hermeneias, Erstes Kapitel (Zit. nach Wikipedia: Semiotik)
Demgemäß fassen wir unterschiedliche Anzahlen als synonyme Wörter aus unterschiedlichen Zahlsprachen auf, sofern sie sich auf die gleiche Menge beziehen (könnten). So sehen wir Strichlisten als eine Zahlsprache und Zahlwörter als eine andere und Systemzahlen als eine abermals andere. Für unseren Alltag ist es wichtig, zwischen unterschiedlichen Zahlsprachen hin und her übersetzen zu können: Von den Zahlwörtern, mit denen wir mündlich kommunizieren, in die dekadischen Systemzahlen, die der schriftlichen Kommunikation dienen, und umgekehrt; manchmal kommen noch römische Zahlen dazu. Im Unterricht werden weitere Sprachen eingeführt: Zahlbilder, Zahlenstrahl, Abakus oder Stellenwerttafel, Bündelmaterial nach Montessori oder Dienes etc. Sie sollen das Erlernen z.B. bestimmter Aspekte des Rechnens erleichtern, weil ihre „Grammatik“ leichter verständlich ist (man denke etwa an Zahlbilder). Aber dafür müssen Kinder schnell von der einen in die andere Sprache übersetzen können; sie müssen sozusagen erst die Vokabeln der Fremdsprache lernen. (Das geht bei Zahlen nicht so wie im Fremdsprachenunterricht.) Für Fremdsprachen gibt es Wörterbücher. Und die nebenstehende Tabelle kann ebenso als Anfang eines Wörterbuchs für die Zahlsprachen darin aufgefasst werden. |